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 forensische Narzissmustheorie

Die Anwendung der Narzissmustheorie im Strafverfahren

(forensische Narzissmustheorie)

von

Dr. med. Thomas G. Gabbert

Zusammenfassung

Der Narzissmus, von der Psychoanalyse Freuds theoretisch eingeführt, hat heute eine gut gesicherte biologische Grundlage in den „Glückshormonen“ (Endorphine, Serotonin ua.), deren Ausschüttung die unterschiedlichen Hochgefühle des Menschen erzeugen. Die Gesellschaft kann durch Regeln darüber, welche Handlungen des Individuums sie lobt und anerkennt und damit positiv rückkoppelt, das gewünschte Verhalten des Individuums verstärken und quasi seine Einordnung in die Gesellschaft steuern. Glücksgefühle können im Berufsleben oder im Privatleben gesucht werden. Negative Erfahrungen auf einem dieser Felder können mit positiven Erfahrungen auf dem anderen kompensiert werden. Die Anwendungsmöglichkeiten der forensischen Narzissmustheorie im Strafrecht werden anhand eines Fallbeispiels anschaulich erläutert, in dem aufgestaute narzisstische Wut zu einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung führte. Depressive Erkrankungen, posttraumatische Störungen, Persönlichkeitsveränderungen nach Extrembelastung und nichtstoffgebundene Süchte wie die „Computersucht“ sind mit dem Modell des narzisstischen Befriedigungshaushalts Kohuts besser verständlich.

 

1. Theoretische Vorbemerkung

Der Begriff Narzissmus wurde von S. Freud (1924) in die Medizin als Beschreibung eines Säuglingszustands, der zunächst seine „Libido“ auf sich selbst richte („primäre Narzissmus“) eingeführt. Im Lauf der Entwicklung psychoanalytischer Vorstellungen entstanden verschiedene Hypothesen zu diesem Thema. Hier wird an die Vorstellung Kohuts (1973) angeknüpft, der Mensch benötige einen ausgeglichenen narzisstischen Befriedigungshaushalt (ein „narzisstisches Gleichgewicht“) auch im späteren Leben und daher eine ständige Zufuhr narzisstischer Befriedigung in ähnlicher Weise wie die Zufuhr von Nahrung. Die Psychoanalyse vermochte es bisher nicht, ihre Begriffe auf eine materielle Basis zu stellen, obwohl inzwischen die biologischen Grundlagen für die Antriebe gefunden wurde, die Freud im „Es“ lokalisierte (Freud 1923). So sieht die forensische Narzissmustheorie die biologische Wurzeln der Libido in den Sexualhormonen, die der ersten Generation von Psychoanalytikern noch unbekannt waren und die biologische Wurzel des Narzissmuss in den „Glückshormonen“ (Endorphine, Serotonin, u.a.), die verschiedene Schattierungen von Befriedigungsgefühlen, Freude, Glücksgefühl usw. erzeugen – wenn auch Einzelheiten bislang nicht geklärt sind , so dass die psychoanalytischen Theorien hier nicht diskutiert zu werden brauchen.

Bei einigen forensischen Fragestellungen kann die Vorstellung eines narzisstischen Befriedigungshaushalts, in diesem Zusammenhang verstanden als regelmäßige Erzeugung von Glücksgefühlen durch entsprechende Hormonausschüttung, zum besseren Verständnis führen. Dieser Vorgang macht das Individuum von seinen Mitmenschen und der Gesellschaft in gewisser Weise abhängig, da diese Belohnungen nach ihren Regeln verteilen. Die Gesellschaft und die Personen der Umgebung des Individuums entscheiden nämlich, wofür sie Lob und Anerkennung verteilen. Die Handlungen des Individuums erfahren durch die Reaktion der Umwelt gegebenenfalls eine positive Rückkopplung durch Anerkennung und vor allem auch durch finanzielle Belohnung, was zu narzisstischer Befriedigung führt. Die Gesellschaft steuert durch positives Feedback die soziale Einordnung des Individuums. Dies ist ein Lernvorgang durch Lob, der natürlich ergänzt werden kann durch negative Rückkopplung in Form von Missachtung, Sanktionen und auch strafrechtliche Konsequenzen. Der Behaviorismus hat die Wirksamkeit dieses positiven und negativen Feedbacks gezeigt (Watson 1930, Skinner 1974). Insofern hat die forensische Narzissmustheorie auch hier einen theoretischen Hintergrund. Sie hat auch Verbindungen zu der inzwischen entstandenen Psychobiologie. Lesch ist dabei, Einzelheiten der Bedeutung des Serotonins bei der Regulierung von Glücksempfinden und Depression zu erforschen (z.B. Lesch 1998).

Anhand eines Fallbeispiels soll ihre Vorgehensweise bei der forensischen Beurteilung der Schuldfähigkeit erläutert werden.

2. Falldarstellung mit Erläuterungen

Die Kindheit des im Februar 1945 geborenen Herrn A war gekennzeichnet durch viel Zuwendung durch Mutter und Großmutter sowie durch den frühen Tod des jüdischen Vaters, der im KZ war und nach seiner Befreiung früh starb, so dass Herr A keine Erinnerungen an ihn hat. Seine Mutter gab ihm quasi die Liebe und Zuwendung (narzisstische Befriedigung), die sie ihrem Mann nicht mehr geben konnte, sie „übertrug“ ihre Liebe vom Ehemann auf den Sohn als „Ersatz“ für ihr verloren gegangenes Sexualobjekt, wie die Psychoanalyse dies beschreiben würde. Aus seinen kindlichen Sozialkontakten wurde er früh herausgerissen, da die Mutter/Oma mit ihm nach dem Tod des Vaters in eine weit entfernte Gegend umzogen, in der er eingeschult wurde. Durch diesen Abbruch seiner Sozialkontakte war er intensiver als durchschnittlich auf die Beziehung zu seinen Erziehungspersonen angewiesen, von diesen „abhängig“.

Für die gesunde psychische Entwicklung des Säuglings ist die emotionale Zuwendung zunächst ebenso wichtig oder sogar wichtiger als die Nahrungszufuhr, wie Harlows Experimente an Rhesusaffen (1959) gezeigt haben (John Bowlbys Bindungstheorie, 1969). Die Zuwendung der ersten Bezugsperson erlebt der Säugling/das Kleinkind offenbar als Selbstbestätigung, sie nährt und stärkt sein Selbstwertgefühl. Positive Zuwendung durch Liebesbeweise und Bewunderung stellt eine Art „Nahrungszufuhr“ dar, die für die seelische bzw. psychische Entwicklung genauso wichtig ist, wie die Zufuhr biologischer Nahrung für die körperliche Entwicklung. Diese seelische Nahrung ist narzisstische Zufuhr, oder Zufuhr narzisstischer Befriedigung. Die normale Selbstliebe, der angeborene Narzissmus (Freud), wird hierdurch bestätigt und „genährt“. Die biologisch-körperliche Seite dieses Vorgangs lässt sich so vorstellen, dass die körperliche Zuwendung in der Form, dass die Mutter ihr Kind an die Brust legt und ihm einen weichen Gegenstand in den Mund schiebt (Brustwarze, Schnuller) nicht nur den Saugreflex auslöst und den Hunger stillt, das Kaloriendefizit des Säuglings ausgleicht, sondern auch – und das wird in der Regel übersehen , eine Ausschüttung von Glückshormonen (Serotonin, Endorphine, usw.) herbeiführt. Der Säugling empfindet nicht nur Hungerstillung, sondern zusätzlich ein Glücksgefühl, ein Wohlbefinden. Dieser Zusammenhang zwischen einem äußeren Ereignis („Stillen“) und dem konsekutiven Glücksgefühl wird im Hirn gespeichert, „gelernt“. Da das Glücksgefühl jedoch nur kurz anhält, beginnt anschließend die Suche nach der Situation, die es ausgelöst hat. Die reflexartig auftretenden Hin- und Herbewegungen des Kopfes des Säuglings und die reflexartige Hinwendung des Kopfes zu der Seite, an der die Wange berührt wird, stellt nicht nur einen Nahrungssuchreflex dar, sondern auch die erste aktive Willensäußerung, der Ausdruck der Suche nach Zufuhr narzisstischer Befriedigung ist. Was wir im sozialen Kontext als Willensäußerungen betrachten, sind also aktive Handlungen, die auch der Suche nach narzisstischer Befriedigung gelten.

Die forensische Narzissmustheorie geht davon aus, dass sich das Individuum nicht nur körperliche Energie zuführen muss (Nahrung), sondern auch ständig nach Erlebnissen sucht, die narzisstische Befriedigungen vermitteln. Der ausgeglichene narzisstische Befriedigungshaushalt ist genauso wichtig wie die körperliche Homöostase für die biologische Entwicklung. Die Ursache der Aktivitäten des Menschen ist jedoch in diesen beiden Fällen unterschiedlich: während die Suche nach physischer Nahrung durch eine Abweichen bestimmter Istwerte von Sollwerten ausgelöst wird und die Nahrungszufuhr zur Erreichung des Sollwerts führt, der Hunger gestillt wird, es sich also hier um einen Regelkreis mit negativer Rückkopplung zur Aufrechterhaltung eines Sollwerts handelt, steht am Beginn der Suche nach narzisstischer Befriedigung ein Lusterlebnis, ein durch Hormonausschüttung ausgelöstes Glücksgefühl, also die positive Rückkopplung (Feedback) einer Handlung, die zu diesem Glücksgefühl gefühlt hat. Dies ist ein Lernvorgang. Das Glücksgefühl ist die Belohnung für das „richtige“ Handeln. Es ist ein Lernen durch positive Rückkopplung, das sich weiter fortsetzt und quasi die Einordnung des Individuums in die Gesellschaft steuert, die später die Vorgaben für Belohnungen setzt. Die Handlungen, die zu Glücksgefühlen geführt haben, werden wiederholt, um das angenehme Gefühl, die narzisstische Befriedung, erneut erleben zu können. Eine Folgerung aus dieser Anschauung ist, dass bei einem dauerhaften Ausbleiben narzisstischer Befriedigungszufuhr ein Ersatz erfolgen kann: anstatt die erwünschte narzisstische Befriedigung durch Handlungen zu erreichen, die vom sozialen Umfeld positiv zurückgekoppelt, also belohnt und vom Körper durch Ausschüttung von Glückshormonen beantwortet werden, kann der Mensch auch Drogen konsumieren, die zur Ausschüttung von Glückshormonen führen. Opium, Heroin und ähnliche Drogen erfüllen diese Funktion zunächst optimal. Der Konsument empfindet beim ersten Gebrauch ein bisher nie gekanntes Glücksgefühl. Der Körper scheint jedoch zu registrieren, dass dieses Glücksgefühl nicht durch eine körperliche Aktivität, eine entsprechende Handlung, ausgelöst wurde und adaptiert sich sehr schnell. Innerhalb kurzer Zeit, nach nur wenigen Drogenräuschen, befindet sich der Körper durch diese Adaptation in einem ständigen Mangelzustand, so dass nunmehr die weitere ständige Drogenzufuhr nur noch deshalb erforderlich ist, um einen Zustand von Ausgeglichenheit zu erreichen. Ein Rausch wird nach dieser Gewöhnung gar nicht mehr erzeugt. Dies ist eine andere Beschreibung der körperlichen Abhängigkeit, zu der diese Mittel in kürzester Zeit führen. Sie verifiziert die theoretische Vorstellung, dass die Erinnerungen an Handlungen, die zu Glückshormonausschüttung und damit zu Glücksempfinden führen, ein narzisstisches Defizit darstellen, das der Mensch durch Wiederholungen dieser Handlungen zu kompensieren sucht. Anders gesagt: der Mensch sucht nach narzisstischer Befriedigung ähnlich wie nach physikalischer Nahrung. Die narzisstische Befriedigung ist seine seelische Nahrung, die er ständig benötigt.

Für die seelische Entwicklung und spätere seelische Ausgeglichenheit muss also quasi ständig „narzisstische Energie“ (Glück, Lust, Wohlbefinden) zugeführt werden. Die forensische Narzissmustheorie besagt, der Mensch benötigt für sein körperliches Wachstum und seine körperliche Gesundheit körperliche/physische Nahrung und für sein seelisches Wachstum und seine seelische Ausgeglichenheit/Gesundheit seelische Nahrung. Letzteres stellt die narzisstische Befriedigung dar.

Herr A wurde schulisch von seiner Mutter, die allein erziehend war und den Lebensunterhalt verdienen musste, zunächst wenig gefördert. Er schloss die Volksschule ab und anschließend noch eine Frisörlehre, um möglichst rasch zum Familieneinkommen beitragen zu können.

Im Erwachsenenleben gibt es im wesentlichen zwei soziale Bezugsfelder, in denen sich das Individuum narzisstische Befriedigung suchen und zuführen kann. So lange er im Haushalt der Eltern versorgt wird, ist er gezwungen, sich auch dort seine narzisstische Befriedigung zu holen. Die Eltern sind begeistert von seinen Fortschritten beim Sprechenlernen und Laufenlernen, sie himmeln ihn an, bewundern ihn, küssen und drücken ihn (wenn er noch klein ist und sich nicht wehren kann). Diese Liebesbezeugungen und Lob stellen eine positive Rückkopplung des von den Eltern erwünschten Verhaltens dar, die über die Ausschüttung von Glückshormonen vermittelt wird, und das erwünschte Verhalten verstärken. Das Kleinkind strengt sich verstärkt an, um mehr narzisstische Befriedigung zu erhalten. Anders ist es beim Ausbleiben dieser positiven Rückkopplung bei Eltern, die keine Zeit für ihr Kind haben, also bei „Kindesvernachlässigung“. Hier leidet die seelische Entwicklung des Kindes, was zunächst zu strukturellen Veränderungen führt und/oder zu Verhaltensauffälligkeiten. Letztere können sich eventuell auch erst im Erwachsenenalter bemerkbar machen, u.a. in eben angedeuteter Suchtproblematik oder in dissozialen Verhaltensweisen u.a. medizinisch klassifizierbaren Störungen. Das Elternhaus ist jedoch nur das erste, damit zwar das wichtigste soziale Bezugsfeld, weil es für die Entwicklung und eventuelle Fehlentwicklungen ausschlaggebend ist. Es tritt jedoch bereits im Kindergarten, auf dem Spielplatz, auf der Straße (die nach dem 2. Weltkrieg den Spielplatz ersetzte) und später in der Schule das erweiterte soziale Bezugsfeld hinzu. Die Möglichkeiten, sich narzisstische Befriedigung zu holen, nehmen also ständig zu. Während der Säugling von der Aktivität seiner Eltern abhängig ist, kann das Kleinkind bereits selbst Aktivitäten entfalten, sich also in immer stärkerem Ausmaß aktiv narzisstische Befriedigung außerhalb der Primärfamilie holen. Je älter der Mensch wird, desto unabhängiger wird er. Bestätigung kann er auf zwei Feldern finden, dem Leistungsfeld von Schule und Beruf sowie auf dem Feld menschlicher Beziehungen von Freundschaft und Partnerschaft. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist dabei, dass für das Ausmaß der narzisstischen Bestätigung nicht nur die Aktivitäten des Individuums maßgeblich sind, sondern auch die Reaktionen der Mitmenschen und die Regeln des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Dies erfährt der Mensch bereits in der Schule.

Während die Eltern beispielsweise die motorische Entwicklung, die Geschicklichkeit des Kindes positiv rückkoppeln und damit fördern, sich über die Kletterkünste ihres Kindes freuen und die Sprachproduktion des Kindes fördern, wird nunmehr das Stillsitzen und das Mundhalten belohnt. Wer dazwischenredet, wird getadelt, Herumrennen wird sanktioniert. Die Gesellschaft steuert die Entwicklung des Kindes nunmehr nicht nur durch Belohnung erwünschten Verhaltens, sondern auch durch Bestrafung unerwünschten Verhaltens. Letzteres ist die negative Rückkopplung, die in der Schule ehemals durch Androhung und Ausübung körperlicher Gewalt und Schmerzzufügung (Rohrstock) ausgeübt wurde, durch Erniedrigung des Kindes durch In-der-Ecke-stellen usw.. Derartige negative Rückkopplung unerwünschten Verhaltens in der Kindheit durch Zufügung körperlicher und seelischer Schmerzen, Demütigungen und Erniedrigungen kann durch die erzeugte Angst zu einem Rückzug des Kindes, Vermeidung sozialer Kontakte oder resignativer Unterwerfung unter die körperliche und seelische Gewalt der Erwachsenen führen. Nach außen passt sich das Individuum an, nach innen werden jedoch Wünsche nach sozialem Kontakt und nach Erleben von Glücksgefühl abgewehrt, ins Unbewusste verdrängt, eventuell wird die Hoffnung auf Glückserleben aufgegeben, narzisstischer Verzicht geleistet, um körperlichen und seelischen Schmerz, der durch die negative Rückkopplung der Erzieher ausgelöst wird, zu vermeiden. Das gilt natürlich auch für die Kleinkindheit, wenn das Elternhaus die Aktivitäten des Kleinkinds mit körperlicher oder seelischer Schmerzzufügung negativ rückkoppelt.

Freud hat sich sehr für das Schicksal sexueller Wünsche (Libido) interessiert, wenn diese negativ rückgekoppelt werden, zum Beispiel durch die „Kastrationsdrohung“ (Freud 1923). Die Abwehr- und Verdrängungsmechanismen der Wünsche nach narzisstischer Befriedigung wurden inzwischen von seinen Nachfolgern untersucht (Hartmann 1975, Mahler 1986, Kernberg 1988 u.a.), allerdings im Rahmen therapeutischer Zweierbeziehung. Dabei scheint die Psychoanalyse zu wenig beachtet zu haben, dass selbst eine sexuelle Beziehung nicht nur der Befriedigung sexueller Wünsche dient, sondern dass Partnerschaft, soziale Kontaktaufnahme, die soziale Einordnung und das Eingehen von Freundschaften auch der Suche nach narzisstischer Befriedigung dienen. Und das Betätigungsfeld von Schule/Beruf nützt nicht nur dem Bestreiten des Lebensunterhalts, sondern ebenfalls der Suche nach narzisstischer Befriedigung. Dies kann sich ergänzen: werden im Bereich Partnerschaft/Sexualität Misserfolge erzielt, also negative Rückkopplungen erreicht anstatt die gesuchte Bestätigung und Anerkennung (positives Feedback), kann die dort ausbleibende narzisstische Befriedigung durch Erfolg im Berufsleben kompensiert und überkompensiert werden. Den Begriff Überkompensation kommt aus der Psychoanalyse Alfred Adlers, der neurotische Entwicklung als Überkompensation (organischer) Minderwertigkeit interpretierte. Umgekehrt können berufliche Misserfolge und Versagungserlebnisse (z.B. ausbleibender Aufstieg in einer Hierarchie) auch mit Erfolg im Feld der sexuellen Befriedigung kompensiert und überkompensiert werden. Sexuelle Befriedigung und polygames Verhalten dient dann der narzisstischen Bestätigung, dem narzisstischen Gewinn.

Herr A bekam in seiner Kleinkindheit eher ein Übermaß narzisstischer Bestätigung durch die Zuwendung seiner Mutter und Großmutter, die andererseits allerdings seine spätere Entfaltung im erweiterten sozialen Umfeld beeinträchtigte. In der Schule erlebte er im Vergleich dazu wenig narzisstische Bestätigung und erreichte lediglich einen durchschnittlich primären Schul- und Berufserfolg (Frisörlehre). Dies reichte nicht aus, um seinen narzisstischen Befriedigungshaushalt auszugleichen, der an relativ viel narzisstische Bestätigung angepasst war. Auch im Feld der Partnersuche hatte er wenig Erfolg. Die gewohnte leicht erwerbbare narzisstische Bestätigung durch Bewunderung blieb hier aus. Die aktive Partnersuche war ungewohnt, er war gehemmt, erlitt narzisstische Kränkungen. Es stellte sich heraus, dass er intellektuell sehr lernfähig und künstlerisch begabt war, was in der Schulzeit nicht zum Tragen gekommen war. Er interessierte sich für Kunst. Die herkömmliche Psychoanalyse würde hier eine sogenannte Sublimierung seiner libidinösen Energie entdecken. Er holte das Abitur nach, studierte Philosophie, Germanistik und Politologie und fand zur Finanzierung des Studiums eine Stelle beim Rundfunk. Er moderierte Radiosendungen, die beim Publikum sehr beliebt waren. Nach Abschluss des Studiums wirkte er weiter als Radiojournalist bei diesem Sender, der ihn anstellte, und als freier Mitarbeiter für andere Sendeanstalten, eine Tätigkeit, in der er eigene Ideen besser verwirklichen konnte. Er hatte großen Erfolg, war beim Radiopublikum sehr beliebt, bekam sehr viel Zuspruch und positive Rückkopplung. Er hatte wieder die aus der Kleinkindheit gewohnte narzisstische Bestätigung und narzisstische Befriedigung. Er ging in seiner beruflichen Tätigkeit auf, hatte wenig Freizeit und fand keine Partnerin. Dies war nicht nur durch Zeitmangel begründet, sondern auch damit, dass sein Bedürfnis nach Bewunderung, wie er es in seiner beruflichen Tätigkeit gewohnt war und genoss, von keiner Partnerin übertroffen werden konnte. Während die im Berufsfeld erlangte Bewunderung seinen narzisstischen Befriedigungshaushalt mehr als befriedigte, konnte keine Partnerin ihn in vergleichbarer Weise befriedigen. Man könnte auch sagen: im Feld der sozialen Bindung und seines normalen Alltags mit seinen praktischen Anforderungen war er ein „Versager“, sein Verhalten wurde auf diesem Feld negativ zurückgekoppelt, zusätzlich erfüllte er nicht die Bedürfnisse seiner kurzfristigen „Partnerinnen“ nach deren narzisstischer Befriedigung, so dass seine Beziehungen zum anderen Geschlecht oberflächlich blieben. Vermutlich ein Problem, dass in Fällen weitaus größerer öffentlicher Anerkennung nicht selten in noch ausgeprägterer Form zu finden ist. Sein narzisstischer Befriedigungshaushalt war jedoch ausgeglichen.

Nach der „Wende“ (der Einigung Deutschlands) kam es jedoch zu einem Bruch. Der Sender, der sich im übrigen inzwischen mehr dem Fernsehen zugewandt hatte, wodurch es auch vorher schon zu einer Reduktion narzisstischer Befriedigungszufuhr von Herrn A gekommen war, wurde nun aufgelöst, mit einem ehemaligen DDR-Sender fusioniert. Im Rahmen der Umstrukturierungen und Umbenennungen dieser Sendeanstalt wurden Mitarbeiter entlassen, auch Herr A war davon betroffen. Er musste sich in die Masse der Arbeitslosen einreihen, Anträge beim Arbeitsamt stellen, war also plötzlich Einer unter Vielen und Bittsteller, er wurde nicht geachtet, seine beruflichen Erfolge erwiesen sich als wertlos. Er erlebte dies  natürlich nachvollziehbar – als Demütigung und Entwürdigung. Anstatt narzisstische Befriedigung zu erfahren, musste er Kränkungen ertragen. Die Psychoanalyse spricht hier sehr sinnvoll von narzisstischer Kränkung. In der Übergangszeit hatte er sich noch mit kleinen Lehraufträgen an der Volkshochschule narzisstische Befriedigung verschafft und war sogar eine Ehe eingegangen, die nach kurzer Zeit scheiterte. Auch dieser späte Versuch, ausbleibende narzisstische Befriedigungszufuhr im Berufsleben durch Erfolg auf dem Feld von Partnerschaft und Ehe zu kompensieren, misslang, wie die forensische Narzissmustheorie dies beschrieben würde.

Herr A. wurde zunehmend depressiver und beging 2001 den ersten Suizidversuch. Er kam in stationäre nervenklinische Behandlung und wird seitdem ambulant mit Antidepressiva behandelt. Auch psychotherapeutische Behandlungsversuche wurden durchgeführt. Er blieb unzufrieden, missmutig, gereizt, Konflikte mit den Nachbarn traten auf. Diese nahmen keine Rücksicht auf ihn, behandelten ihn wie einen „Penner“, waren laut. Er nahm sich einen Rechtsbeistand, um sich gegen diese Mitbürger, die eher der Unterschicht angehörten, zur Wehr zu setzen. Aggressives Auftreten war ihm als gebildetem Menschen fremd. Die Neopsychoanalyse Harald Schultz-Henckes (1973) würde hier eine aggressive Gehemmtheit diagnostizieren. Er zog bis zur Begehung seiner Straftat viermal um. In jeder Wohnung traten erneut die gleichen Konflikte mit den Nachbarn auf. Bei Begehung der Straftat war er sogar der einzige Mieter einer Wohnung, die Hausmitbewohner waren hingegen Eigentümer ihrer Wohnungen. Die sozialen Verhältnisse hatten sich umgekehrt. Er fühlte sich als Außenseiter. Die anderen, nämlich die Wohnungseigentümer, hatten sich gegen ihn als sozial schwächer gestellten verbündet. Nun erinnerte er sich seines Vaters und fühlte sich von seinem sozialen Umfeld behandelt „wie ein Jude“. Er blieb jedoch äußerlich ruhig, „schluckte“ seine Wutgefühle hinunter, wie der Volksmund sagt. Die narzisstischen Kränkungserlebnisse steigerten sich jedoch zu narzisstischen Wutgefühlen, wie die psychoanalytische Narzissmustheorie sagen würde.

Diese Wutgefühle werden jedoch abgewehrt, ins Unbewusste verdrängt. Bewusst bleibt die rationale Überzeugung, sozial abgestiegen zu sein, das Grundgefühl signalisiert ihm Demütigung, Wertlosigkeit. Die psychotherapeutischen Interventionen können an der Realität nichts ändern. Sein rationales Denken macht die Gesellschaft dafür verantwortlich. Diese ist allerdings zu abstrakt, um als Objekt für aggressive Handlungen dienen zu können. Die narzisstische Wut findet für ihre Abfuhr kein geeignetes Objekt, seine aufgestauten Aggressionen finden kein Objekt, an dem sie befriedigt werden können. Ihre „Verdrängung“, wie es psychoanalytisch beschrieben werden könnte, basiert nicht nur auf einer Gehemmtheit, sondern ist schicksalhaft – eine abstrakte Gesellschaftsordnung kann zwar rational kritisiert werden, aber nicht tätlich angegriffen werden, wenn man einmal von terroristischen Aktivitäten und dem sinnlosen Verhalten eines Don Quichote am Ersatzobjekt absieht.

In dieser Situation kommt es nun zur strafbaren Handlung.

Bevor ich auf die Tat eingehe, möchte ich als psychiatrisch-psychoanalytischer Sachverständiger für die Beurteilung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zunächst auf die in jedem Gutachten geforderte medizinische und juristische Einordnung der Störung des Angeklagten eingehen. Die Aufgabe des Psychiaters bei der Begutachtung der Schuldfähigkeit im Strafverfahren besteht darin, die Persönlichkeit des Angeklagten zunächst in psychiatrischen Kategorien zu erfassen und diese Modellierung der Situation aus medizinisch-psychiatrisch-psychoanalytischer Sicht in die juristische Modellierung der Realität zu übersetzen. So versteht jedenfalls die forensische Psychoanalyse ihre Aufgabe. Jede Wissenschaft modelliert die Realität auf ihre Weise, aus jeweils ihrer Sicht, und der Gutachter im Strafprozess hat hier zwischen medizinischer und juristischer Sicht Übersetzungstätigkeit zu leisten.

Eine depressive Symptomatik kann verschiedene Ursachen haben, nach denen man sie psychiatrisch einordnen kann. Falls sie auf einer angeborenen Disposition beruht, die sich organisch in der Fehlsteuerung von „Glückshormonen“ (Serotonin, Dopamin, Endorphin u.a.) manifestiert, kann sie medizinisch als endogene Depression eingeordnet werden, in juristische Terminologie übersetzt wäre dies eine „krankhafte seelische Störung“. Ist die depressive Symptomatik lebensgeschichtlich erklärlich, wie in diesem Fall, könnte man medizinisch von einer neurotischen Depression sprechen, die juristisch dem Eingangsmerkmal der „anderen seelischen Abartigkeit“ zuzuordnen wäre. Entsteht eine depressive Symptomatik als Reaktion auf ein belastendes Ereignis erheblicher Schwere, das aufgrund dieses Schweregrades auch beim bislang seelisch Gesunden ohne depressive Strukturanteile zu schwerer depressiver Symptomatik führt, käme hier ebenfalls die Kategorie „schwere andere seelische Abartigkeit“ in Betracht. Dies besonders dann, wenn die Ausprägung der Symptome den Anspruch an eine „Schwere“ erfüllt, was bei Suizidversuchen der Fall sein kann.

Der juristische Begriff der „Abartigkeit“ ist allerdings sehr unglücklich gewählt. Eine treffende Formulierung wurde nach meiner Kenntnis bisher nicht vorgeschlagen. Die forensische Psychoanalyse würde hierfür den Begriff der „Andersartigkeit“ vorschlagen. Im Prinzip ist jedes Individuum einzigartig, also auch andersartig im Vergleich zu anderen. Ein derartige „Andersartigkeit“ kann jedoch einen erheblichen Schweregrad haben, der berechtigt, an eine erhebliche Beeinträchtigung der Einsichts- und der Steuerungsfähigkeit zu denken.

Die Kategorie „Schwachsinn“, kann ich diesem Zusammenhang vernachlässigt werden. Auf die Kategorie „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ komme ich später zu sprechen.

Nun zum Abschluss der Falldarstellung, dem explosionsartigen Aggressionsausbruch mit an sich eher harmlosen Folgen, die strafrechtlich jedoch als schwere Körperverletzung bewertet wurde (es geht ja hier nicht um irgendwelche reißerischen Fälle von Mord oder Amoklauf, die in der Öffentlichkeit breit getreten werden, sondern um medizinische und juristische Sachfragen, die sich auch am harmlosen Fall klären lassen).

Herr A, der seine Enttäuschung über die Gesellschaft und seine narzisstische Wut auf die Mitbewohner „schluckt“, sich auch ansonsten zusammennimmt und keinen Missbrauch betreibt, sich aber bereits in mehreren Mietwohnungen über den Krach der Nachbarn ärgert und keine Solidarität bei den Vermietern, der Hausverwaltung und Polizei (Anzeigen wegen Ruhestörung) gefunden hat, schließlich immer nachgegeben hat und umgezogen ist, wobei seine Selbstachtung immer weiter gesunken ist, wird eines Tages mit dröhnendem Krach konfrontiert. Er wohnt im Hochpaterre des Hinterhauses und die Fenster der Nachbarwohnung müssen überarbeitet werden. Dazu werden sie abgenommen, im Hof vor sein Fenster gestellt und mit einem elektrischen Hobel bearbeitet. Er beschwert sich höflich bei dem Handwerker, der das zu hobelnde Fenster an anderer Stelle platziert, aber seine Arbeit fortsetzen muss, für die er bezahlt wird. Dem Krach ist nicht abgeholfen. Herr A ruft telefonisch die Polizei und geht ins Bad, um seinen Kopf zu kühlen. Er leidet im Rahmen seiner Depression an chronischem Kopfschmerz, der unter dieser Belastung zunimmt und unerträglich wird. Nun kommt es zu einer explosionsartigen Entladung seiner Wut. Er gibt nicht länger klein bei, sondern schmeißt in einem Anfall von aggressiver Befriedigung das Wasser aus dem Fenster. Das Wasser trifft den Handwerker und seinen Hobel, es kommt zu einem Kurzschluss, der Handwerker wird nicht nur nass, bekommt auch einen elektrischen Schlag, hat anschließend Kribbelparästhesien, lässt sich krank schreiben und macht eine Anzeige wegen Körperverletzung. Vom Schreien des Handwerkers werden die Hausbewohner aufgescheucht, der Handwerker hämmert gegen seine Wohnungstür, Herr A hat Angst, verprügelt zu werden. Die Polizei kommt, die Nachbarn gehen ihr schon entgegen und berichten von dem Wasserwurf und dem Stromschlag, so als ob alle ihn beobachtet hätten. Die Polizei nimmt die Anzeige gegen ihn auf, um seine Anzeige wegen der Lärmbelästigung kümmert sich keiner. An seine aggressive Tat, den harmlosen Wasserwurf, kann er sich später nicht mehr erinnern, hat diese einmalige Befriedigung seiner Wut, seiner aggressiven Wünsche, verdrängt. Seine Befriedigung nicht einmal bewusst wahrgenommen. Er hat eine Gedächtnislücke für die Tat. Ein anderer Nachbar müsse das Wasser auf den Handwerker gekippt haben. Das Wasserplatschen habe er gehört, wie er meint; aber er habe das Wasser nicht geworfen. Sein Verteidiger erfährt von der Depression, den Klinikaufenthalten, seiner Behandlung mit Antidepressiva, er beantragt ein psychoanalytisches Gutachten zur Frage der Schuldfähigkeit. Das Gericht beauftragt mich.

So weit die Falldarstellung.

3. Diskussion

Man denkt zunächst an einen harmlosen Routinefall, in dem die Steuerungsfähigkeit durch eine Persönlichkeitsstörung mit „major depression“, (F32.2 der ICD 10-Nomenklatur) im Sinne einer „schweren anderen seelischen Abartigkeit“, erheblich vermindert gewesen ist und daher § 21 StGB angewendet wird. Im Ergebnis ist das selbstverständlich richtig, die Argumentation und die juristische Einordnung sind jedoch aus Sicht der forensischen Psychoanalyse etwas anders. Bei Begehung der Tat, also bei dem Wurf, hatte sich über einen längeren Zeitraum eine narzisstische Wut, die sich nicht nur aufgrund von persönlichkeitsbedingter Gehemmtheit, sondern auch aufgrund der schicksalhaften gesellschaftlichen Verhältnisse nicht entladen konnte, immer weiter angestaut. Dies ist ein Affektstau, der zu einer juristisch so bezeichneten „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ führen kann, was hier der Fall war. Dieses zweite Eingangsmerkmal zur Anwendung der §§ 20 und 21 StGB wird häufig übersehen. Ätiologisch ist hier ein jahrelanger Aufstau von Wut durch Erniedrigungen, Demütigungen, kurz: narzisstischen Kränkungen, zu verzeichnen, dem weder durch Flucht (z.B. Scheidung), noch durch aggressives sich-zur-Wehr-setzen (Gegenaggression) begegnet werden kann. In der Regel ist das in Partnerschaften der Fall, die nicht beendet werden können, wenn der gepeinigte Partner von seinem Peiniger finanziell abhängig ist. Die psychodynamische Seite derartiger Beziehungen hat beispielsweise Rasch (1964) in seinem Hauptwerk, „Tötung des Intimpartners“, befriedigend erläutert, so dass ich dem nichts hinzuzufügen habe. Nicht nur bei Rasch scheint mir jedoch der reale soziale Hintergrund zu kurz zu kommen, also das schicksalhafte in derartigen Beziehungen. Rasch u.a., meist also männliche Forensiker, führen in der Regel auch Fälle an, in denen der männliche Partner Opfer von Demütigungen ist und sich aus inneren Gründen, also aufgrund von Gehemmtheiten oder Persönlichkeitsfehlentwicklungen, aus psychischen Gründen also nicht in der Lage ist, sich zu trennen. Würde er sich zur Wehr setzen und seine Partnerin maßregeln, hätte er eine Trennung seitens der Partnerin zu befürchten, die er in derartigen Fällen vermeiden muss. Er befindet sich also in einer Abhängigkeitsposition, so dass auch gern eine „abhängige Persönlichkeitsstörung“ diagnostiziert wird, die der schweren anderen seelischen Abartigkeit zugeordnet werden kann. Diese bildet dann den Boden für einen Affektzustand, der zur tiefgreifenden Bewusstseinstörung führt, unter derem Einfluss eine dramatische Konfliktlösung praktiziert wird, der Mord am Partner. Viel häufiger ist jedoch der Fall, dass eine Trennung aus rationalen Erwägungen heraus nicht möglich ist, weil ein Partner vom anderen finanziell abhängig ist oder im Trennungsfall eine körperliche Misshandlung oder Tötung durch den aggressiven Partner zu befürchten hat. Die Opfer in derartigen Beziehungen, in denen sie geprügelt, gedemütigt, misshandelt und erniedrigt werden, also narzisstische Kränkungen ertragen müssen, sind nach meinen Erfahrungen häufiger Frauen, die sich in einem Affektzustand ausnahmsweise zur Wehr setzen und sich durch eine Tötung des Intimpartners von diesem befreien. Seltsamer Weise wird jedoch in derartigen Fällen eher selten an eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung gedacht und sehr schnell ein Rachemotiv als Mordmerkmal angenommen, dies selbst von weiblichen Rechtsanwälten, Staatsanwälten und weiblichen Richtern.

In meinem Fallbeispiel ist ebenfalls eine Trennung unmöglich, es sei denn, Herr A wäre aus Deutschland ausgewandert, wofür er bereits erstens doch schon etwas alt war und auch keinen Partner hatte, der ihn begleitet hätte. Viele Fälle von Auswanderung stellen die Konsequenz aus der Unzufriedenheit mit dem Heimatstaat dar, bzw. umgekehrt sind viele Fälle von Einwanderung nach Deutschland eine Konsequenz aus der Unzufriedenheit mit dem Heimatland. Das Individuum ist unabhängiger von seinem Staat geworden und befindet sich zum Staat nicht in einem derartigen Abhängigkeitsverhältnis wie ehemals. In meinem Fallbeispiel eines deutschen Nachkriegskindes war die Bindung zur Heimat noch sehr stark. Trotz seiner ansteigenden Wut auf den deutschen Staat nach seiner Entlassung in Arbeitslosigkeit, ertrug er die Demütigungen durch die Mitarbeiter des Arbeitsamts, die Erniedrigungen durch seine Nachbarn, die ja lediglich nach ihren Vorschriften (auf dem Amt) und nach gewissen Umgangsregeln der Gesellschaft (andere Umgangsformen in der Unterschicht als in der Oberschicht, später zu seinen Ungunsten, da er nun der Unterschicht angehörte) handelten. Persönliche Vorwürfe gehen in dieser Situation ins Leere, Herr A kann seine Mitmenschen nicht ändern oder die Umgangsformen auf dem Amt. Er muss auf dem Arbeitsamt warten und sich diesem unterwerfen. Noch während des Strafprozesses erinnerte er sich an die Misshandlungen im KZ, denen sein Vater ausgesetzt war. Aber auch hier kann er keiner lebenden Person einen konkreten Vorwurf machen und fühlt abstrakt wie ein Jude, damals ein „Untermensch“, behandelt.

Sein Tathandeln könnte theoretisch erheblich drastischer sein, die Tatfolgen (Stromschlag) waren hier gar nicht absehbar. In der Regel sind es Beleidigungen von Amtspersonen oder Körperverletzungen auf dem Arbeitsamt an dortigen Mitarbeitern, die zu beklagen sind und zu Strafverfahren und Begutachtung führen.

4. Ergebnis und Anwendungsbereiche

Im Ergebnis führt das Konzept des narzisstischen Befriedigungshaushalts zu einem besseren Verständnis der Tatsituation als die rein psychiatrische Einordnung einer Symptomatik zu der Diagnose einer Depression und deren Zuordnung zu einer Nummer der ICD-Nomenklatur, die keinen Zusammenhang zur Ursache der Depression herstellt. Auch die Zuordnung zu einem Eingangsmerkmal des § 20 lässt sich in bestimmten Fällen depressiver Entwicklung unter dem Gesichtspunkt des von mir benutzten forensischen Narzissmusbegriffs besser beschreiben und führte im Fallbeispiel zu einer anderen Zuordnung. Die „tiefgreifende Bewusstseinstörung“, an die im Strafprozess zu selten gedacht wird, wird verständlicher.

Die hier vorgestellte Anwendung des Narzissmusbegriffs in der forensischen Psychiatrie eignet sich vor allem zur Darstellung depressiver Erkrankungen, besonders der depressiven Entwicklungen, depressiver Neurosen und depressiver Reaktionen. Sie macht Suchterkrankungen verständlicher, Sucht wird als Kompensationsversuch real erfahrener narzisstischer Kränkungen interpretierbar. So kompensieren vom Schulsystem gedemütigte Kinder ihre narzisstischen Kränkungen im Computerspiel („nichtstoffgebundene Sucht“). Besonders zum Verständnis sogenannter „früher Störungen“, „Ich-struktureller Erkrankungen“ und Borderline Erkrankungen (ICD10 F60.31), trägt die Vorstellung eines narzisstischen Befriedigungshaushalts bei. Die ICD-Nomenklatur hat ihre Stärken in der Vergleichbarkeit durch die Konzentration auf die Phänomenologie und den weitgehenden Verzicht auf Theorien zur Ätiologie. Die ätiologischen Gesichtspunkte macht die forensische Narzissmustheorie nicht nur bei den depressiven Störungen zum geeigneten Instrument der Darstellung eines Falles vor Gericht, sondern auch bei der in letzter Zeit im Blickpunkt stehenden „posttraumatischen Belastungsstörung“ (F43.1) und den „Persönlichkeitsveränderungen nach Extrembelastung“ (F62.0). Traumatische Erlebnisse stellen in der Regel narzisstische Kränkungen des Erwachsenen im Heimatland dar, seien es Folter oder Verlusterlebnisse (materieller Art oder Ansehenseinbußen) oder mangelnde Bestätigung und Kränkungen im Gastland (Einbußen an narzisstischer Befriedigung, negatives Feedback). Die Folgen drastischer Ansehensverluste und Erschütterungen des ideologischen Überbaus (des „Über-Ichs“ im Sinne von Freud) konnten wir am Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin Berlin nach der „Wende“ beobachten, als einige Mitglieder der ehemaligen DDR-Führungsriege von unseren Mitarbeitern zur Frage der Verhandlungsfähigkeit begutachtet werden mussten. Hier waren ausgesprochen häufig körperliche Erkrankungen, besonders Zellentartungen (verschiedene Carcinome) zu verzeichnen. Der Verfasser kann hier allerdings nur einen Kausalzusammenhang zwischen dem Einbruch narzisstischer Befriedigungszufuhr und Störungen des Zellstoffwechsels vermuten und die Bedeutung eines ausgeglichenen narzisstischen Befriedigungshaushalts auch für die körperliche Gesundheit postulieren.

Thomas Gabbert im April 2009

Copyright Thomas Gabbert.
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