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 Fall Andreas L. Lehren

Lehren aus dem Flugzeugabsturz in den Alpen
mit 150 Toten am 24.3.2015

Dr. med. Thomas Gabbert

Arbeiten trotz Arbeitsunfähigkeit

Die Feststellung und Attestierung einer Arbeitsunfähigkeit gehört in Deutschland zu den Aufgaben der niedergelassenen Ärzte. Praktisch geht der Mensch, der sich krank fühlt oder der nicht zur Arbeit gehen will zu seinem behandelnden Arzt (in der Regel den "Hausarzt") und lässt sich krankschreiben.

Der Arzt macht vor diesem Akt der "Krankschreibung" natürlich Untersuchungen, um Befunde festzustellen, die eine Arbeitsunfähigkeit begründen. Der Arzt muss einen Menschen persönlich untersucht haben, bevor er ihn arbeitsunfähig schreibt. Auf dieser sogenannten "Krankschreibung" muss der Arzt den Tag des Beginns und des voraussichtlichen Endes der Arbeitsunfähigkeit vermerken. Die Version der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Arbeitgeber darf aus Gründen der Schweigepflicht keine Diagnose enthalten.

Juristen stehen allerdings auf dem Standpunkt, dass diese Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kein Arbeitsverbot darstelle, sondern dass der Patient dennoch zur Arbeit gehen dürfe – z.B. Prof. Jobst-Hubertus Bauer, Fachanwalt für Arbeitsrecht aus Stuttgart laut dpa am Fr., 27. Mär 2015 16:25 MEZ.

Das Fühlen des Kranken

Typischer Weise für Juristen wird hier keine klare Aussage gemacht, sondern eine völlig realitätsferne einschränkende Aussage. Der Patient dürfe für den Fall, dass er sich gesund fühle, arbeiten gehen.
Erstens muss man sich fragen, warum der Mensch zum Arzt geht, wenn er sich arbeitsfähig fühlt. Zweitens sollte es bei der Frage, ob ein Individuum arbeitsfähig ist oder nicht, nicht nach einem Gefühl gehen. Dass ein Jurist ein Gefühl, also etwas Subjektives, als Kriterium für das Vorhandensein einer Fähigkeit (hier der Arbeitsfähigkeit) zugrunde legt, kennzeichnet wohl auch juristisches Denken.

Die Aufgabe des Arztes

In der Regel kann man wohl davon ausgehen, dass ein Individuum seinen Arzt aufsucht, weil es sich medizinische Hilfe verspricht. Es empfindet Schmerzen oder andere Störungen seiner Körperfunktionen oder seiner geistigen Fähigkeiten - fühlt sichkrank - und vermutet entsprechend der allgemeinen Meinung, dass ihm ein Arzt helfen könne. Dass Ärzte nicht dafür bezahlt werden, dass sie ihm helfen, sondern dafür, dass sie eine Krankheit behandeln, daran denkt er in diesem Moment nicht. Der Vertrag zwischen Arzt und Patient ist kein Werkvertrag, der auf die Behebung eines Mangels abzielt, sondern ein Dienstleistungsvertrag. Der Arzt behandelt den Patienten unabhängig davon, ob dies zur Heilung führt oder nicht. Sein Geld bekommt er für die Behandlung, nicht für die Heilung.

Es gibt selbstverständlich auch Individuen, die nicht deshalb zum Arzt gehen, weil sie behandelt werden wollen, sondern weil sie nicht arbeiten gehen wollen. Diese schreibt der Arzt in der Regel "krank". Denn wer krank ist, muss nicht zur Arbeit gehen. Falls das der Arzt A nicht tut, geht der Mensch zum Arzt B.

Arbeit trotz Krankheit

Wer krank ist und dennoch arbeiten gehen will, bekommt ein Rezept oder eine andere Behandlung und kann weiter arbeiten gehen. Er bekommt aber keine "Krankschreibung".

Dass ein sich krank fühlender Mensch, der trotzdem weiter arbeiten gehen möchte, gegen seinen Willen vom Arzt krankgeschrieben wird, ist ein Ausnahmefall.
Es gibt nämlich auch fürsorgliche Ärzte, die ihre Patienten vor Schädigung schützen wollen und ihnen eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellen, selbst wenn sie weiter arbeiten wollen. Der Arzt geht selbstverständlich davon aus, dass der kranke Mensch zu Hause bleibt, wenn er ihn arbeitsunfähig geschrieben hat.

Ein krankes Individuum, das vom Arzt nicht nur behandelt, sondern auch gegen seinen Willen krankgeschrieben wird, hat natürlich immer noch die Möglichkeit, diese Krankschreibung zu zerreißen und gegen den Willen des Arztes zur Arbeit zu gehen. Dass jemand so dumm ist und trotzdem arbeitet, nimmt der Arzt aufgrund seiner Erfahrung nicht an. Dass es aber auch diesen Fall gibt, in dem ein Kranker trotz Krankheit arbeiten geht, sehen wir am Fall des Herrn A. Lubitz.

Herr Lubitz, der als Copilot seine Arbeit antrat, obwohl sein behandelnder Arzt ihn krankgeschrieben hatte, und dann das von ihm gesteuerte Flugzeug gegen einen Berg flog, ist ein aktuelles Beispiel für diesen Fall (soweit man derzeit aus der Presse erfahren kann).

Der Grund für Arbeit trotz Krankheit

Man fragt sich, warum ein Mensch so dumm ist, und trotz einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die ihn berechtigt, zu Hause zu bleiben, arbeiten geht.

Dafür gibt es einige Gründe, wahrscheinlich mehr, als ich mir vorstellen kann. Mir geht es auch nicht um Vollständigkeit, sondern um die Darstellung eines Prinzips.

Angst vor Ansehensverlust und Arbeitsplatzverlust

In der heutigen Konkurrenzgesellschaft, in der stets andere Menschen bereit stehen, die Arbeit eines "Versagers" zu übernehmen, steht praktisch jeder, es sei denn, er ist unkündbar, unter dem Druck, mindestens seine Arbeitsaufgaben zu erfüllen, wenn nicht, sie überzuerfüllen. Schon die Beschränkung auf den Dienst nach Vorschrift kann als Arbeitsverweigerung ausgelegt werden. Fällt ein Arbeitnehmer wegen Krankheit aus, müssen andere seine Aufgaben während dieser Zeit miterledigen. Oder es muss eine Ersatzperson vorübergehend eingestellt werden. Entweder gerät der kranke Arbeitnehmer in Misskredit bei seinen Kollegen, oder seine Ersatzperson könnte sich als effektiver arbeitend herausstellen. Der Kranke und Arbeitsunfähige muss also mindestens mit einem Verlust seiner Anerkennung, die er von den Kollegen bekommt, rechnen, weil sie seinetwegen mehr arbeiten mussten, Überstunden machen mussten. Er erleidet eine narzisstische Einbuße, einen Verlust narzisstischer Befriedigung, oder befürchtet dies. Nach meiner Erfahrung als psychiatrischer Gutachter rechnen viele dieser Kranken jedoch mit einer Kündigung oder anderen Sanktionen für den Fall, dass sie ihrer Arbeit wegen Krankheit nicht nachgehen.

Aus meiner Sicht sind die Furcht vor dem Verlust von Anerkennung, die Furcht vor Kritik sowie die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes die wesentlichen Gründe dafür, dass ein Individuum zur Arbeit geht, selbst wenn es von seinem behandelnden Arzt als arbeitsunfähig eingestuft wird.

Die Folgen des Arbeitens trotz Krankheit

Die Folgen dieses Verhaltens können äußerst dramatisch sein, wie man am Fall des Piloten Andreas L. sieht. Zum Glück ist dies ein krasser Ausnahmefall.

Grundsätzlich muss man davon ausgehen, dass sich in diesen Fällen die Krankheit, die nach Ansicht des Arztes eine Arbeitsunfähigkeit begründet, weiter verschlimmert. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dient ja dazu, dass der Arbeitnehmer sich schont, sich erholt, vorübergehend gerade keine Leistung erbringt. Schon allein diese Schonung unterstützt die Selbstheilungskräfte des Körpers und Geistes. Dies gilt für einen banalen Schnupfen – gegen Viren hat die westliche Medizin gar kein Heilmittel wie beispielsweise gegen Bakterien -, es gilt aber auch für jede andere Krankheit, insbesondere auch für psychische Erkrankungen. Kann die Erkrankung nicht in Ruhe ausheilen, kann sie unter Belastung immer wieder akut werden. Und der berufliche Alltag stellt in der Regel eine Belastung dar. Am Ende wird aus einer harmlosen akuten Erkrankung, die in der Regel ausheilt, eine chronische Erkrankung, ein dauerhafter Erschöpfungszustand und in weiterer Folge eine zusätzliche seelische Erkrankung, nämlich eine Depression.
Oder der sich selbst überfordernde Mensch versucht sich mit Hilfe von leistungssteigernden Medikamenten oder illegalen Drogen fit zu halten (Doping), woraus sich eine Mittelabhängigkeit entwickeln kann - abgesehen von Nebenwirkungen, die auch bei ärztlich verordnetem Gebrauch von Medikamenten auftreten können.

Der zwanghafte Mensch

In der Öffentlichkeit wird ein derartiger Fall bisweilen in der Weise dargestellt, dass der Arbeitnehmer, der trotz Krankheit zur Arbeit erscheint, sich zusammenreißt oder sich nach außen hin nichts anmerken lassen möchte, eine gesunde "Fassade" zeigt. Dies gilt besonders für zwanghaft strukturierte Männer, die nicht selten sind. Hinter einer derartigen Zwangsstruktur steckt häufig eine aggressive Gehemmtheit. Die Betreffenden sind pünktlich, genau und verlangen von sich selbst Perfektion. Sie müssen funktionieren. Anderenfalls fühlen sie sich als Versager, machen sich Vorwürfe. Dies kann dramatische Formen annehmen. Im Extremfall brechen autoaggressive Impulse durch, die Betreffenden begehen aus heiterem Himmel suizidale Handlungen. Gesünder wäre es, rechtzeitig die Aggressionen auf die Umwelt, beispielsweise auf den Vorgesetzten oder bestimmte Mitarbeiter, unter denen sie leiden, in angemessener Weise verbal herauszulassen. Leider fehlt es dann oft an dieser Angemessenheit, so dass überschießend aggressiv gehandelt wird. Oder die Arbeitsumstände, die zu Überlastung und Aggressionen führen, sollten verändert werden - falls das möglich ist. Letzteres ist häufig nicht der Fall. Dann werden die Missstände geschluckt - und führen beispielsweise zu Magengeschwüren. Ob im Fall des Herrn L. ein derartiger Mechanismus aggressiver Gehemmtheit vorlag, wissen wir nicht. Bekannt ist derzeit, dass er in psychiatrischer Behandlung war. Dies könnte einen ganz anderen Grund gehabt haben, beispielsweise könnte eine Epilepsie oder eine andere hirnorganische Erkrankung vorgelegen haben.

Verbesserungsvorschläge

Abgesehen von diesem Einzelfall sollte der Leistungsdruck, den unsere Gesellschaft auf die Arbeitnehmer ausübt, problematisiert werden. In Bezug auf hoheitliche Aufgaben des Staats wird dies getan. Beamte werden für ihre Anwesenheit bezahlt, nicht für ihre Leistung. Das wäre selbstverständlich im Fall von Flugzeugpiloten und anderen Berufen, in denen Leistung gefragt ist, nicht erwünscht. Aber gerade ich diesen Berufen, beispielsweise bei Chirurgen, bei deren Tätigkeit es um Leben und Tod des Patienten gehen kann, werden reichlich Überstunden angeordnet, die noch dazu schlecht bezahlt werden. Nach 24-stündigem Bereitschaftsdienst wird dann noch der normale Tagesdienst erwartet, so dass Übermüdung mit ärztlichen Behandlungsfehlern die Folge sein kann. In derartigen Berufen, zu denen ich auch den Beruf des Piloten von Passagierflugzeugen zählen würde, sollte die Gesellschaft doch darauf achten, dass Ermüdungserscheinungen der Berufstätigen und Selbstüberforderung vermieden werden. Bei Berufskraftfahrern ist dies bereits der Fall. Auch besondere Regelungen zum Kündigungsschutz wären angebracht, die den Angestellten vor der Furcht schützen, bei Fehlen durch Krankheit ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Da in diesen Fällen andere Menschen vor den möglichen Fehlern eines Angestellten geschützt werden müssen, sind Sanktionen (z.B. Lizenzentzug) in Grenzfällen erforderlich, sollten jedoch nicht zusätzlich mit erheblichen finanziellen Einbußen verbunden sein, bzw. sollten diese auf Kosten der Allgemeinheit abgefedert werden.

Dass im Fall des Herrn L. 150 Menschen ihr Leben verloren haben ist aus meiner Sicht symptomatisch für eine Gesellschaft, die das Leistungsprinzip höher bewertet als den Schutz der Gesundheit der Berufstätigen und den Schutz menschlichen Lebens. Man sollte diese Tragödie zum Anlass nehmen, hieran etwas zu ändern.

Dr. med. Thomas Gabbert
Berlin, den 29.3.2015

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